[...] 5. Die intransitive Innovationskraft einer realiter bestrittenen Maqāṣid al-Scharīʿa

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Der Exkurs in den Kern des eigentlichen Problems: Und dennoch kennt solche dominante Rechtsschöpfung und marginale Rechtsauslegung nur wenig Außerrechtliches wie es moderne Formen des Rechts herzustellen wissen: Jenes gründet sich schlicht in der Banalität des Mensch-Seins, mit der sich ein "Recht gegen sich selbst blind machen" muss (die private Willkür im Außen des Rechts, die in seinem Innen nicht detektiert werden kann und darf); es muss sich selbst begrenzen, es kann nicht in die intimsten und privatesten Nischen infrastaatlicher Öffentlichkeiten nachspüren, religiös und sozial programmieren. Der Nistort individual sprossender Willkür, die ein monotones gleichsam griechisches und islamisches Recht nicht in einer Form von Recht verkapseln können - als ein Recht, das sich schon dadurch genügen darf, bloß selbstreflexiv zu sein; natürliche als außerrechtliche Willensbildung, sei es auch nur private Strebung von Willkür, die sich gleichsam und stets einem (religiösen) Souverän zu entziehen suchen und einer sie einhegenden Mühewaltung von spektraler Interessenordnung, die im Innen des Rechts nurmehr regelgeleitet verhandelt werden, nicht zuletzt durch die Partikel überschießender Willkür formbar sein darf (Der Widerspruch zwischen einer idealistischen Willenstheorie oder Willkürtheorie und einer modernen Interessentheorie ist im Grunde keiner). Natürliche Rechte (der willkürlichen Strebung, Entfaltung) können nur dann als solche verstehbar werden, wenn sie von einer institutionalisierten Rechtssetzung legalisiert werden; erst der Akt der Rechtssetzung konstituiert sie (natürliche Rechte), indem er sie in das Außen seines zugrunde liegenden Rechts verdammt (hier ist der Mensch Individuum; tritt er in das Innen des Rechts ein, ist er Subjekt). Es verdankt sich einer irreduziblen Dopplung eines zuallererst performativen Rechts: der Ermöglichung von Interessen (wozu darf eine Inanspruchnahme von Rechten dienbar gemacht werden ?) und der gleichzeitigen und -räumlichen Erlaubnis (weshalb beziehen sich Rechtspflichten gerade auf jene oder diese Gründe) von Willkür (weil das Recht erlaubt, auch nach natürlichem Belieben zu wollen). Es geht indessen auch nur um eine durch das Recht selbsthervorgebrachte Normativität, die sich erst in ihrer formativen (wandlungsbefähigten) Legalität und durch diese zu autonomisieren weiß, die nicht länger Rückhalt in einer sittlichen Vernunft oder religiösen Letztbegründung zu finden sucht. Es ist ein Recht der Rechte, das nicht unmerklich ein beliebiges Recht sein darf, will es modern sein, sein muss. Die Bewusstwerdung eines selbstreflexiven normativen Rechts, das sich in seiner letztgründenden, sittlichen, vernünftigen oder religiösen Materialität nicht selbst begründen oder selbst legitimieren will, sondern nur selbst zu begrenzen sucht, indem es Räume schaffen will, in denen es nicht ist, weil es in ihnen nicht sein darf. Eine Unterscheidung, die ein islamisches Recht erst mühsam, nicht wenig konfliktarm aus einer holistischen Lesart islamischer Quelltexte (die Maqāṣid-Konzepte von al-Ghazālī und al-Shāṭibī) herauszulösen vermag; es sind die nicht unbekannten Probleme hinsichtlich ihrer Funktion und Substanz, die eine im „Westen“ so nicht wahrgenommene, genealogische Überwindung der überkommenen Rezeption und klassichen Konzeption der Maqāṣid al‐Scharīʿa überragend erschwert. Ein vielfach beschworener Lichtblick, der sich bei näherem Hinsehen selbst einzutrüben weiß. Die Motivation ent- und neugründender Umstellung von islamischen (Rechts-)gründen zu modernen Rechtszwecken unterfällt innerhalb einer sehr umtriebigen und agilen Rechtswissenschaft zuvörderst in zwei Tendenzunternehmen, die eine zeitgenössisch widerstreitende Reformdebatte spiegeln sollen: In den Ansatz ihrer nicht zwingend kriteriologischen Umdeutung und in den technischen Reflex einer bloßen Erweiterung ihrer klassischen Rechtszwecke, die insbesondere den neu zu verhandelnden Grundbedürfnissen des islamischen Menschen, den Weg in eine Moderne zu bedeuten haben. Eine letztlich religiöse Strebung, die den ultimativen Referenzrahmen klassischer Rechtszwecke nicht gänzlich quittieren will. Das Forum externum des islamischen Rechts, das den fuqahā (islamischen Juristen) überantwortet werden darf, tangiert hiernach nicht das Innen, die Gewissensanspannung des einzelnen Menschen, die je nur Allah zugänglich sein sollen. Ein Versprechen, das sich ein islamisches Recht scheinbar nur selbst abzunehmen weiß: Insoweit Allah eine auktoriale Mitwisserschaft zugestanden werden darf, ist ein solches Denken nicht strikt anti-ipseologisch oder gar antipolitisch, doch wird solches nicht unmerklich dadurch „neutralisiert“, als ein atheistisch oder politisch eingefärbtes Innen des Menschen nicht unbeschränkt eines göttlichen Diktums prozessieren dürfte. Ein unvollendeter Freiheitsraum eines im islamischen Recht vorgesehenen, tabuisierten Kernbereichs menschlicher Intimsphäre, der funktionabel sein muss, will er neue Autoritätsgründnung in protopolitischer Ermöglichung und aufruhender, politischer und formativer Rechtssetzung, die über eine zugelassene normative Umdeutung und Erweiterung hinausstrebt, einüben (beispielhaft bleibt der Schutz der Religion als Ritualnorm gleichrangiger Rechtszweck zu einem Schutz des Lebens). Die Verunmöglichung oder weitgehende Ausschaltung nicht-rechtlicher Responsivität von bloßem Denken, Meinen, Glauben und Dafürhalten in einem materialen Außen eines Rechts verhindern jegliche Übersprünge aus seinem tabuisierten Kernbereich menschlicher, experimentierender „Intimität“: Insoweit Übersprünge menschlichen Denkens, als sie in ein Zwischen von mannigfaltigen Privatsphären eintreten dürften; die es erst(-malig) ermöglichen könnten, gleichsam so etwas wie politische und nunmehr koalitionäre Willensbildung zu evozieren (der Mensch übersteigt hierbei seinen tabuisierten Kernbereich höchstpersönlicher Strebungen und verkapselt sich mit den preisgegebenen Privatsphären anderer Menschen). Erst mit diesem prozessualen Übersprung befähigen sich multispektrale Materialitäten selbst dazu, einem so projektierten Recht stets (außen-)konstitutiv vorausgehen und von einem Innen des Rechts konstitutionell vorausgesetzt werden zu können (indem das Innen des Rechts sein Außen erst in seinem Dasein und Sosein legalisiert, sprich erlaubt). Ein immanent politisches (erlaubtes) Dürfen im Außen des Rechts, das sich in seiner ermöglichten Rechtsbetätigung in einem Innen umstellen darf, statuiert sich uneigentlich durch einen weiteren Movens (erst jetzt wird ein Dürfen im Zwischen von Menschen realiter handlungsbefähigt): Das moderne Recht erlaubt nicht nur bloßes Dürfen (anderes Wollen, neues Wollen), es überführt es in die Ermöglichung eines beispielhaft partizipatorisch-rechtsetzenden Könnens, das anders möglich sein kann, das von etwas anderem abhängig sein darf (die Suche nach neuer majoritärer Autoritätsgründung oder ureigener islamischer Staatlichkeit, die ohne den Primat Islam hegemonial sein will). Eine moderne Rechtsordnung gewährt autologisch politische Rechte, weil modernes Recht nur unter dem hantologischen Signum seiner gründenden und entgründenden Politizität und Potentialität funktionsfähig werden kann. In einem freilich nur kursorischen Zugriff wird evident sichtbar, dass so etwas wie politische Rechte in den unabgeschlossenen klassischen, moderaten und modernisierenden Maqāṣid-Konzepten nicht einmal Erwähnung finden dürfen. Das Selbstverständnis der einzelnen Maqāṣid-Konzepte ruht freilich sehr reduktiv darin, dass die fünf Schutzzwecke des islamischen Rechts einer bloßen Gestaltung der menschlichen Existenz, den Regelungsvorbehalten zwischenmenschlicher Beziehungen zu unterfallen hätten: Dennoch ist es nicht minder ein Selbstverständnis, dass in einem solchen Zwischen der Menschen, sich das urtümliche Stratum sozialer Strittigkeit zuallererst prototypische Räume suchen muss, jene auch regelmäßig ohne die Wächterschaft eines islamischen Rechts (mit den Mitteln eines Politischen) zu erzeugen weiß. Aufmüpfige Strittigkeit, die autologisch politisch ist, die aber keine Anerkennungsverhältnisse in einer monolithischen normativen Ordnung abgeschlossener Rechtszwecke vorzufinden vermag, die stets eine revolutionäre Kräftigkeit eines „Arabischen Frühlings“ in die Untergeschosse des Gesellschaftlichen zurückzudrängen weiß; die überdies keine von der normativen Ordnung angebotenen, institutionalisierten Werkzeuge regelgeleiteten Streits aufzunehmen wüßte. Die klassifizierenden Dimensionen der islamischen Rechtszwecke erschöpfen sich in unterschiedenen, sogenannten notwendigen, erforderlichen und verbessernden Bedingungen der menschlichen Existenz: den Schutzzwecken der Religion, des Lebens, der Vernunft, der Nachkommen und des Eigentums. Soweit ein Recht politischer Betätigung suspendiert bleibt, setzt sich korrespondierend ein steuerungsmächtiges, irreversibles Partikel, das sich dem ultimativen Schutz der Religion dienbar zu machen hat, in der normativen Ordnung der Maqāṣid-Konzepte fest. Es wird zu einem purifiziert antipolitischen, nicht einmal unpolitischen Recht (was politisch sein kann) degradiert; es scheint wie ein klassisches griechisches, reines Reflexrecht zu sein, das vom Normadressaten allenfalls in seiner Ein- und Ausprägung wiederkehrend neu und monoton perpetuiert werden muss. Eine zeitkontextuale Mühewaltung der normativen Umdeutung und Erweiterung von islamischen Rechtszwecken durchschlägt verunmöglichtes politisches Anderes jedenfalls nicht. Schlussendlich zeigt sich hierin eine schon leichtsinnige Verschaltung von Recht und Nicht-Recht, mit der ein islamisches Recht nur schwerlich zu prozessieren weiß: Denn, eine materiale, rechtlich und nicht-rechtliche, insoweit doppelt reflexive Anerkennung normativer Ordnung heißt im modernen Recht, dass nicht-rechtliche Aktivation oder spektrale Interessenbildung (nur der sunnitische ist der „wahre“ Islam) niemals unbedingt Gültigkeit im Innen eines Rechts erlangen könnte. Unbedingt gültig ist nur das Recht, das nicht monoton ist; nur das Recht, das veränderbar ist und bleibt, ist gerechtes Recht modernen Zuschnitts. Hingegen bewährt sich die monolithische islamische Ritualnorm im islamischen Recht als überkommener Rechtsgrund, der vermittels einer nicht angreifbaren Substanz, die Islam heißt, gleichsam durch eine normenhierarchische und lebensweltliche Materialität hindurch, ein islamisches Recht für ein Nicht-Rechtliches insoweit öffnet, als eine religiöse Ritualnorm als privilegiertes Nicht-Rechtliches, sich zu einem Rechtsgrund in einem islamischen Recht umzustellen weiß: Die islamischen Ritualnormen vermögen dies scheinbar; ihre Materialität öffnet ein islamisches Recht, zugleich dürfen sie sich als Gründe in einem islamischen Recht umgestellt wissen – dass in einem modernen Recht, ein Recht durch die Materialität eines Nicht-Rechtlichen geöffnet und informiert wird, heißt jedoch gerade nicht, dass es zu einem Grund im Recht werden darf wie im Fall einer islamischen Ritualnorm (in den klassischen Konzeptionen steht sie zweifelsohne neben oder über einer Menschenwürde). Es drängen sich sodann zwei Fragen auf. a) Inwieweit vermag ein additiver Schutzzweck (den einer politischen Teilhabe u.ä.) das mehr als eintausendjährige Arkanum aus den überkommenen fünf islamischen Schutzzwecken (Religion, Leben, Vernunft, Nachkommenschaft und Eigentum) (…) insoweit zu durchschlagen, als er ein montones Zusammenspiel der menschlichen Grundbedürfnisse aus einer Maqāṣid (den monolithischen Schutzzwecken) und ihrer korrespondierenden Güterbefriedigung, der sogenannten Maṣālih, grundsätzlicher Neuverhandlung auszusetzen wüßte. b) Ließe man den Eintritt (…) zu, so verkapselt sich jene Frage mit einer weitergehenden Fragestellung: Kann ein hinzutretendes Recht auf unbedingte politische Teilhabe/echte Koalitionsfreiheit tatsächlich bloß neben einen Schutzzweck der Religion treten oder muss gleichsam letzterer insoweit heraustreten/zurücktreten, als ein (sichernder) Dienst an ihm durch ein politisches Recht nur hinreichend gewährleistet werden könnte. Die Frage ist, könnte ein totalitäres Selbstverständnis einer Universalreligion solches ertragen ? Ein zutiefst stagnativer Malus in einer jeden normativen Ordnung, der jede Mühewaltung neuer Autoritätsgründung (Demokratisierungsprozesse in islamischen Gesellschaften) wiederkehrend und nicht unmerklich wundersam in die Anerkennungsverhältnisse purifiziert islamischer Staatlichkeit zurückzuwerfen weiß, der ein Dilemmatorisches und eine Unpraktikabilität hybridisierter Staatsformen aus einer Maqāṣid und westlich-adaptiver Kostüme im arabisch-islamischen Lebensraum zu spiegeln weiß (Welche Qualität hat eine inkonsequente Glaubens- und Gewissensfreiheit in einer Marokkanischen Verfassung, vgl. oben, welcher Erfolgswert kommt Wahlen zu, bei der majoritäre Koalitionen nicht hegemonial sein dürfen, weil sie beispielhaft als "atheistische" Partei nicht zugelassen sind etc. ?) Versucht man all jenes in die anfängliche Behauptung des Exkurses zurückzuwerfen, so will ein islamisches Recht gegen sich selbst nur auf einem Auge blind sein. Die Suche nach neuer, ureigener islamischer Staatlichkeit jenseits existenter, erprobter Staatsmodelle (und aktueller islamischer Herrschaftsmodi) muss solche staatliche Gestaltungsmotoren supplementieren, insoweit addieren können, als sie nicht ausschließlich einen homogenen islamischen Menschen zu adressieren hätte; gelingt es nicht, so könnten auch prospektiv, gleichsam profan („proto-“)politisch prozessierende Menschen als auch politische Hegemonien von koalitionären Personenmehrheiten nicht funktionabel-konfliktaversiv, schlussendlich nicht hinlänglich befriedet islamischer Staatlichkeit unterfallen. Jede Form beherrschungskräftiger islamischer Staatlichkeit würde fortgesetzt in spektral-formative islamische Interessen, als diese unbedingt antagonistisch sind, zerfasern, die eine Addition von (agonalen) staatlichen Gestaltungsmotoren repetitiv verunmöglichen wird. Eine funktionable islamische Staatlichkeit jenseits beherrschungskräftiger Clan-Diktaturen, islamischer Monarchien mit infunktionabel hybridisiertem Verfassungsrecht u.a. bedarf unbedingt der Ermöglichung regelgeleiteten politischen Streits, der ohne Islam sein darf. Saijed Kutb erklärt (mit kontrastierender Motivation) die ununterbrochene normative Ordnung im Islam, die sich aus der klassischen Maqāṣid al‐Scharīʿa nähren soll; er weiß darum, dass eine purfiziert scharīʿatisierte, islamische Staatlichkeit nur schwerlich Kompatibilitäten mit einem Selbstverständnis demokratischer Bewegunsgwirklichkeit zu evozieren weiß; ihm ist bewusst, dass invasive, westlich-adaptive Importe moderner Rechtsstaatlichkeit schlichtweg Augenwischerei seien (viele heutige Autoren unterstellen nachgerade, dass es nur einem bewussten und vordergründigen Antlitz von Rechtsstaatlichkeit dienbar gemacht werden soll). Es sei schlussendlich darauf hingewiesen, dass der Schlüssel zu einem (Selbst-)Verständnis eines universalistisch strebenden, nicht minder totalitären Islams, der Letztbegründungszustand und institutionalisiertes Monitoring islamischer Lebensprinzipien sein will, nur über ein islamisches Recht erst ermöglicht werden könnte: Der Islam, als er auch multidimensionale und penibel programmierende Soziallehre sein will, organisiert sich gleichsam (schon) konstitutiv und konstitutionell in einer mäßig formativen Form des islamischen Rechts und innerhalb eines Arkanums monolithischer Rechtszwecke.

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