Eine Rechtsordnung und eine Staatsordnung sind nicht deckungsgleich, werden jedoch in der Regel synonym verstanden. Das neuzeitliche Denken der Rechtsidee will indessen drei Formen des Rechts in einer differentia specifica verwirklicht wissen: Die Gerechtigkeit, die Zweckmäßigkeit und die Rechtssicherheit. So wie sie im Modus ihrer Zweckmäßigkeit zu einer Staatszweckmäßigkeit wird, getragen von Zwang und einem Anspruch auf Richtigkeit und Gleichheit, entkommt sie in ihrem Ausdruck von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit - die punktuell und situativ staatliche Unzweckmäßigkeit zu evozieren vermögen - der Sphäre staatlicher Zweckbildung. Die hegemoniale Kraft der staatlichen Zwecksetzung durch das Werkzeug Recht wird insbesondere durch eine entscheidende Eigenleistung des Rechts kontrastiert: Die Erfindung subjektiver Rechte im und durch das Recht selbst, die zuallererst eine Herausbildung des Rechtsbewusstseins für ein Recht auf Rechte ermöglichen.
In den westlichen Demokratien wird von vielen Autoren ein sogenannter Umbau des Rechtsbewusstseins durch die Umschaltung von Gerechtigkeit auf Recht diagnostiziert. Evident ist, dass in China das Rechtsbewusstsein die fortgesetzte Nichttrennung von Lebens- und Herrschaftsform ertragen muss: Das gegenwärtige sozialistische Rechtssystem ist ungleich eines Ereignisses linearer Rechtsentwicklung zu sehen; vielmehr ist es asymmetrisiert, paradoxerweise zugleich ununterscheidbar zu kontinentaleuropäischen und japanischen Normtexten und unentschieden.
Die segmentale Kodifizierung des Zivil- und Straf- sowie Prozessrechts, die im wesentlichen einem westlich-kontinentaleuropäischen Zuschnitt folgt; die sogenannten „Sechs Kodices“, die in ihrer Regelungsreichweite zumindest adaptiv das Grundsummen europäischer Rechtswirklichkeit am Anfang der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts einfängt, zeigen neben dem Willen zur Modernisierung auch ein eigenes kulturkreisbedingtes, soziales Erbe, das sich hineinverwoben wissen will. Eine genealogische Rechtsentwicklung im Sinne eines gleichförmigen Prozesses der kontinentaleuropäischen Rechtsentwicklung erfährt zuletzt mit den Auswirkungen der Kulturrevolution ein Defizit legitimations- geschichtlicher Perspektive. Zumindest entwickelt sich hierdurch ein hybridisierter Zustand aus bereits gelegten Spuren rechtsstaatlicher Grundlegung und einem diese instrumental-politisch verwischendes Recht, in dem zumindest der Gedanke einer Rule of Law projektiert werden soll.
Braucht China ein solches genealogisches Ereignis „Gerechtigkeit“ - kann ein rechtlich dynamisierter Umbau des Rechtsbewusstseins in China die performativen Widersprüche des aktuellen und projektierten sozialistischen Gesetzesherrschaftsstaates überwinden ?
Unter der Prämisse moderner Betrachtungsweisen des Rechts wäre demnach ein sich aktualisierendes Denken unverfügbaren menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit als Stiftungsakt rechtinstitutioneller Ausgestaltung - also in Form eines gesellschaftlich entwicklungsfähigen Ereignisses „Gerechtigkeit“ - in seiner zeitgemäßen Notwendigkeit zur Disposition zu stellen. Ein Denken solcher Passagen zwischen Gründung und Rechtskalkulation, sprich das Majoritär-Werden der Menschenrechtsidee, erfordert zumindest, dass den variierenden Ausdrucksformen des globalen Human Right Law die ursprüngliche Gravidität intern sein muss, die den Menschen zugleich kognitiv (Philosophie), affektiv (Politik) und emotional (Betroffenheit) erfassen und eben einer solchen Kodifizierung vorausgehen müssen. Jenes kann sich in einem atomisierten Gefüge linearer und genealogischer Gerechtigkeitsdiskurse oder in lebensweltlichen, revolutionären Zäsuren in der Gesellschaft verwirklichen. Ein Beispiel hierfür bildet der historische Verweis auf die kontinentaleuropäische ‚Kritik‘ des Rechts (Kant, korrigierend Hegel), die durch eine reflexive Operation von außen vollzogen wird und die das Recht im Verhältnis zu seinem Anderen ‚im Unterschied‘, als ein strukturell-hierarchisches Verständnis von vernünftiger Form betrachtet. Eine Konsequenz sei hiernach, dass das Recht nicht in der Lage sei, sich selbst zu verstehen; es sei insoweit auch nicht dazu in der Lage, kohärent die Begriffe von Menschenrecht und Gerechtigkeit zu denken. Gerechtigkeit zu denken, sei demnach ein Privileg des Anderen des Rechts, das zugleich und in Opposition zum Recht existiert. Kann ein Recht, das sich dem widersprechend selbst bereits reflexiv versteht, die Funktion linearer Rechtsentwicklung (Hierarchisierung, Kodifizierung, Kritik und Krise des Rechts als rechtsphilosophische Reflexion und Systemtheorie) im Fall Chinas übernehmen; können Entwicklungstadien Kontinentaleuropas zeitlich übersprungen werden ? Die Frage, ob eine zeitgemäße Notwendigkeit von Gerechtigkeitsdiskursen zum Teil durch ein scheinbar rein rechtliches Instrument ersetzt werden könnte, kann mit einem Ja beantwortet werden. Akzeptiert man die Diagnosen moderner Paradoxiemodelle der Betrachtungsweise des Rechts, insbesondere die dekonstruktive Methode Derridas als ein Denken des Normativen, so ist die Gerechtigkeit zwar in ihrem Gefüge transzendenter Letzbegründungsversuche nicht innerhalb des Rechts verortet, sie kann aber dennoch und nur durch eine dem Recht inhärente normative Kraft detektiert werden. Nur das Recht stellt mit dem Institut des subjektiven Rechts das kompetente Werkzeug zur Verfügung. Dieses ist - wohlgemerkt in aller kursorischen Kürze - einer erstaunlichen, politisch gedachten Apostrophierung subjektiver Rechte geschuldet, die sich nicht im Subjekt gründet, sondern erst durch die Kraft der Gerechtigkeit - die dekonstruktivistisch als Differenz von normativer Kraft und Form im Recht gelesen werden soll - die paradoxe Inklusion von Subjekt und Individuum im Recht strukturiert. Diese dem Recht interne Kraft wendet sich zugleich gegen sich selbst und „spaltet sich in Sein und Sollen, Form und Norm“ (...), „als eine Forderung, das Andere in sich zu enthalten, die das Recht an- und über sich hinaustreibt“, als eine Kraft die subjektives Recht erst zu formen vermag und hierin zugleich seine Form auflöst.(vgl. Menke)
Das Hintergrundsummen unaufhörlicher Gerechtigkeitsdiskurse, das niemals in eine stets aktualisierte Verschleifung von Recht und Gerechtigkeit im Recht zum Ausdruck kommen kann, soll als ein solches gefordertes Anderes erkannt werden. Verdinglicht man diesen Verschleifungsakt, der zwischen Recht und Gerechtigkeit flottiert, trägt dieser den Namen ‚normative Kraft im Recht’. Sind transparente, staatliche Handlungsmaßstäbe - die mit der Eigenheit subjektiven Rechts, nämlich das Rechte-haben und Rechte-betätigen können, zusammenfallen - bloße rechtstechnische Werkzeuge ? Sicher. Transparenz als vorauseilendes, technisches Korrektiv ist jedoch auch der entscheidende Moderator der normativen Kraft im Recht - die Gerechtigkeit heißen soll. Begreift man diese gesellschaftliche Erwartung als eine Anwartschaft der Menschen gegenüber einem projektierten, „gerechten“ Recht in China, so kann sich diese nur vermittels eines zeitlich vorausgehenden und latenten Wissens um unveräußerliche Menschenrechte konsistent organisieren. Den Menschen in China muss insoweit eine Rekursnahme auf etwas Vorhandenes gelingen, das so im gegenwärtigen Rechtssystem (darüber hinaus auch in der Gesellschaft) zunächst invisibilisiert ist.
Exemplifizierend seien die Strafrechtsgrundsätze genannt, die als kostümierendes Sedativum in der chinesischen Rechtsordnung in einem Schlummermodus verharren und in ihrer Verzerrung oder bloßen Nichtbeachtung sichtbar gemacht werden müssen. Es gilt, Ausnahmezustände innerhalb der Rechtsordnung zu demaskieren: In der Normallage eines funktionablen Rechtsstaates soll die Rechtsordnung ein hinreichendes Gewissheitssystem - im Ausdruck einer angstfreien Rechtsbetätigung - abbilden. Der Ausnahmezustand definiert einen Zustand des Gesetzes, in dem die Norm justiziabel ist, aber nicht in allen Fällen angewandt wird (weil ihr die Gesetzeskraft genommen wird), und auf der anderen Seite Handlungen, die nicht den Stellenwert von Gesetzen haben, deren ‚Kraft‘ situativ verliehen werden. Im Extremfall zeitigt eine solch unentschiedene Gesetzeskraft ein unendliches Problem: Situativ und alternierend könnte indessen der originäre staatsrechtliche Souverän, der chinesische Gesetzesherrschaftsstaat oder auch die genialisch anmaßende und ‚dezisionistische‘ Entscheidung der KPCh Rechtswirklichkeiten produzieren. Das Paradebeispiel einer Exzess-Zugehörigkeit der KPCh zu der von ihr projektierten Gesetzesherrschaft spiegelt sich in der Instituierung des berüchtigten „Büros zur Prävention und Behandlung des Irrlehren-Problems“, das auf jeder Regierungs- und Verwaltungsebene staatsorganisationsrechtlich eingebunden ist und unter dem Vorwand eines spezifischen Vulnerabilitätsassessments der Gesellschaft (Regimekritik und Glaubensbekenntnis als Kriminalität) über weitreichende Weisungsrechte gegenüber der strafgerichtlichen Justiz verfügt. Das chinesische Strafgesetzbuch hingegen formuliert viele kriminelle Handlungen vermittels amorpher Textkörper (konterrevolutionäre Straftat), die insbesondere einem kontinentaleuropäischen Denken hinreichender Bestimmtheit nicht standhalten. Überdies werden unter Fortführung einer sowjetrussisch-legislatorischen Einfärbung, in den Wortlauten nicht einbezogene Verhaltensweisen durch Analogieschlüsse in die Pönalisierung einbezogen. Obschon mit der Strafprozessrechts-Novelle aus dem Jahr 1979 erste Kriterien rechtsstaatlicher Kompetenzverständnisse im Strafprozess kodifiziert wurden, unterfällt dieser einer fortdauernden Dichotomie aus justizalem Richterspruch und exekutivisch entscheidungsgebundener Administrativhaft. Eine gesetzlich ausgewiesene Beliebigkeit der Strafgewalt ist nicht von der Hand zu weisen.
Diese Detektion von Ausnahmezuständen in der Ordnung, ist indessen das entscheidende Moment, das von einem Kriterium erfasst wird, das sich zwischen dem gelebten und erfahrbaren Anspruch einer Universalität (Philosophie) und der Alterität (Politik) von Menschenrechten verortet und sich eines hidden players versichern kann. Die Existenz und die Selbstorganisation subjektiver Rechte im Recht erzeugen erst das Bewusstsein von einem Recht auf Rechte. Der positiven Rechtsgestalt kommt eine prototypische und nicht ledigliche instrumentelle Relevanz zu. Die Eigenstruktur der Menschenrechtsnormen mit ihren Elementen kategorialer Distanz sind in ihrer zunächst vordergründigen Opposition zu einer reinen Semantik der Werte unverzichtbar. Was kann aus einem Gerechtigkeitsbegriff Benjamins erwachsen, wenn dieser sich weigert, in das Unabdingbare einer Rechtskalkulation zurückzukehren ?
Der Umbau des Rechtsbewusstseins in China sollte auf der Bewusstwerdung von einem Recht auf subjektive Rechte, einer unbedingten facultas aufruhen. Diese zutiefst politisch und zeitverzögert ethisch konnotierte Lesart der subjektiven Rechte durch moderne Paradoxiemodelle des Rechts ermöglicht erst die Einsicht, dass die normative Kraft als Betriebssystem des Rechts, eine Verschleifung von Gerechtigkeit und Recht erfolgreich zu kondensieren vermag. Die hierin auftretenden Verschleifungsdefizite müssen in der Gesellschaft in dem Sinne einer Handlungsfähigkeit anheim fallen, als sie durch die Herstellung spezifischer kritischer Massen nicht nur wahrgenommen, sondern als essentielles Kriterium echter Aktivbürgerschaft verstanden werden. Solches kann sich zum Beispiel in der nachdrücklichen Einforderung und Beachtung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei strafgerichtlichen Hauptverfahren äußern. Die Bewusstwerdung der Gestaltungskraft transparenter Handlungsmaßstäbe kann sich im Falle Chinas - schon in Anbetracht der Beherrschungsmacht der KPCh - nur kleinschrittig evolutionär in das Register Menschenrechtsforderung einschreiben. Das dilemmatorische Selbstverständnis gewollt legislatorisch aufgespaltener Strafrechtswirklichkeit lässt eine Überwindung des Tagesgeschäfts ‚Lagerhaft und Umerziehung‘, als dauerhaft räumliche Einhegung eines Ausnahmezustandes neben der Ordnung, nicht zu: Will China den Paradigmenwechsel hin zu einer Rule of Law, hin zu einer widerspruchsfreien Rechtsordnung vollführen, so muss dem chinesischen Staat bewusst sein, dass er mit jedem Lagerinsassen nicht nur systematisch menschliche Existenz zerstört, sondern perspektivisch transitional-rechtliche Altlasten produziert.
China wird vor dem Hintergrund verschiedener Kreuzungspunkte internationaler Selbstverpflichtung zur legislatorischen Modernsierung gedrängt: Das WTO-Beitrittsprotokoll aus dem Jahr 2001; die Unterzeichnung der UN-Menschenrechtskonvention und des Zivilpakts verpflichten China dazu, das eigene Rechtssystem sukzessive an die westlichen Mindeststandards anzupassen. Das Instrumentarium klassischer, bilateraler Interventionen in Sachen ‚Menschenrechtsforderung‘ wird auch fortgesetzt auf eine staatsparteiliche Immunisierung konsequenter Strafrechtsmodernisierung treffen, die in erster Linie dem oben beschriebenen hybridisierten Zustand eines zugleich rechtsstaatlichen und politischen Strafrechtsverständnisses geschuldet ist. Die Leistungsfähigkeiten deutsch-chinesischer Rechtsdialoge, die vorwiegend im Bereich des Wirtschafts- und Vertragsrechts zugelassen sind, können vor dem Hintergrund der Einheit einer Rechtsordnung und trotz einer - die Mäßigung intendierenden - Neujustierung des Grundrechtsschutzes allenfalls als Wirklichkeitenklaven angesehen werden. Jeder Partizpand dieser als fruchtbar apostrophierten Rechtsdialoge weiß um deren schattenspielerischer Hintergründe, den Primat wirtschaftlicher Interessen und der Rolle einer punktuell kommissarisch-diktatorischen Staatspartei, die Ausnahmezustände zu normalisieren vermag.
Die Rechtsentwicklung sollte in China in ihrem eigenen Verständnis als linear betrachtet werden, zugleich sollte sie die Forderung einer Verkürzung, einer Abkürzung in sich tragen. Vermittels der hier nur summarisch dargelegten Selektionsleistungen moderner Betrachtungsweisen des Rechts steht mit der Form subjektiven Rechts ein isolierter Baustein zur Verfügung, mit dem eine innergesellschaftliche Inversion des politisch zu denkenden Rechtsbewusstseins von einem Recht auf Rechte herstellbar scheint. Nur ein solcher Umbau des Rechtsbewusstseins vermag die richtige Transponierung von Gerechtigkeit zu ermöglichen, eine das Rechtsbewusstsein in eine andere Höhe hebende - der Bewusstwerdung einer eigentümlichen Gestaltungskraft transparenter Handlungsmaßstäbe. Sicher, müsste an dieser Stelle der Einwand einer hiermit verbundenen, transzendental-legislativen Hegemonie westlich-demokratischer Grundprinzipien eingebracht werden. Die kontrastierende Idee, die alternierenden Begrifflichkeiten und Konzepte von Menschenrechten in ihrer Pluralität zu denken, sie entsprechend verschiedener Kulturkreise in voneinander nuancierenden Formulierungsversuchen zuzulassen, steht einer hier zugrunde gelegten Favorisierung der als politisch detektierten Gestaltungskraft subjektiven Rechts nicht entgegen. Ein eigener chinesischer Formulierungsversuch eines Menschenrechtsbegriffs bliebe hiervon unberührt; er könnte sich sozusagen um den Gedanken dieses Minimalkriteriums etablieren - ohne, dass es zu einer Gefahr unipolarer Deutungshoheit kommen müsste. Der Idee einer sogenannten „mestizistischen Neudeutung von Menschenrechten“ und der dekonstruktivistischen Lesart subjektiven Rechts ist ein wesentliches Kriterium gleichsam eigen: beide schieben den irreduzibel politischen Charakter ihrer Konstituierung in den Vordergrund.